
Heiligen Klara von Assisi
Das Testament der heiligen Klara
Im Namen des Herrn. Amen.
1. Unter den verschiedenen Gnadengaben, die wir von unserem freigebigen Spender, dem Vater der Erbarmungen (2 Kor 1,3), empfangen haben und noch täglich empfangen, müssen wir ihm, dem Glorreichen, größten Dank sagen, denn groß ist unsere Berufung; je vollkommener und größer sie aber ist, desto mehr schulden wir ihr das Höchste. Daher sagt der Apostel: “Erkenne deine Berufung” (vgl. 1 Kor 1,26).
2. Der Sohn Gottes ist uns Weg (vgl. Joh 14,6) geworden, den uns unser seliger Vater Franziskus, sein wahrer Liebhaber und Nachfolger, durch Wort und Beispiel gezeigt und gelehrt hat.
3. Deshalb, geliebte Schwestern, müssen wir die uns erwiesenen unendlichen Wohltaten Gottes betrachten, besonders aber diejenigen, die Gott in uns durch seinen geliebten Diener, unseren seligen Vater Franziskus, zu wirken sich gewürdigt hat, nicht nur nach unserer Bekehrung sondern auch damals, als wir noch in der Eitelkeit der Welt weilten.
4. Denn als der Heilige bis dahin weder Brüder noch Gefährten hatte, als er fast sofort nach seiner Bekehrung die Kirche in San Damiano aufbaute, wo er, von göttlicher Tröstung völlig erfüllt, angetrieben wurde, die Welt ganz und gar zu verlassen, siehe, da weissagte er über uns in großer Freude und Erleuchtung des Heiligen Geistes, was der Herr später auch erfüllt hat.
Er stieg nämlich damals auf die Mauer der genannten Kirche und rief mit lauter Stimme in französischer Sprache einigen dort in der Nähe weilenden Armen zu: “Kommt und helft mir beim Bau des Klosters San Damiano; denn fürder werden dort Frauen wohnen, durch deren ruhmvollen und heiligen Wandel unser himmlischer Vater in seiner ganzen heiligen Kirche verherrlicht werden wird.”
5. Darin also können wir die überreiche Güte Gottes gegen uns betrachten, der ob seiner überfließenden Barmherzigkeit und Liebe durch seinen Heiligen solches über unsere Berufung und Erwählung zu sprechen sich gewürdigt hat.
Und nicht nur über uns hat unser hochseliger Vater solches geweissagt, sondern auch über die anderen, welche kommen werden in der heiligen Berufung, zu welcher uns der Herr berufen hat.
6. Mit welcher Sorgfalt also, mit welchem Eifer des Geistes und Körpers müssen wir die Gebote Gottes und unseres Vaters beobachten, auf daß wir mit des Herren Beistand ihm das Talent vervielfältigt zurückgeben (vgl. Mt 25,15 ff). Der Herr selbst nämlich hat uns nicht allein den anderen Menschen als ein Vorbild zum Beispiel und Spiegel aufgestellt, sondern auch unseren Schwestern; denn sie hat der Herr zu dem gleichen Leben berufen, zu dem er uns berief, auf daß sie gleichfalls denen, die in der Welt wandeln, Spiegel und Beispiel seien. Da uns also der Herr zu so Großem berufen hat, daß diejenigen in uns sich spiegeln können, die anderen zum Beispiel und Spiegel sind, so sind wir gehalten, den Herrn besonders zu preisen und zu loben und uns überdies im Herrn zu stärken, Gutes zu tun.
Deshalb werden wir, wenn wir nach der genannten Weise leben, den anderen ein gutes Beispiel hinterlassen und durch geringste Mühe den Siegespreis ewiger Seligkeit erlangen.
7. Nachdem der himmlische Vater sich gewürdigt hatte, mein Herz durch seine Barmherzigkeit und Gnade zu erleuchten, daß ich nach dem Beispiel und der Lehre unseres hochseligen Vaters Franziskus Buße tue, habe ich bald nach seiner eigenen Bekehrung ihm freiwillig zusammen mit einigen Schwestern, die mir der Herr bald nach meiner Bekehrung gegeben hatte, Gehorsam versprochen, so wie uns der Herr durch dessen preiswürdiges Leben und dessen Lehre das Licht seiner Gnade verliehen hatte.
8. Als aber der selige Franziskus bemerkte, daß wir körperlich schwach und gebrechlich seien, trotzdem aber vor keiner Not, Armut, Beschwerde, Mühsal oder Niedrigkeit und Verachtung der Welt zurückscheuten, ja nach dem Beispiel der Heiligen und seiner Brüder dies sogar für große Wonne erachteten, wie er persönlich und seine Brüder häufig festgestellt haben, war er hocherfreut im Herrn. Und zur Liebe gegen uns bewegt, verpflichtete er sich, immer für uns wie für seine Brüder fleißig besorgt und auf eine ganz besondere Weise um uns bekümmert zu sein, sowohl in eigener Person als auch durch seinen Orden.
9. Und so gingen wir nach dem Willen des Herrn und unseres hochseligen Vaters Franziskus zur Kirche San Damiano, um dort zu wohnen; dort aber hat der Herr unsere Zahl in kurzer Zeit durch seine Barmherzigkeit und Gnade vermehrt, damit erfüllt werde, was der Herr durch seinen Heiligen vorausgesagt hatte; denn an einem anderen Orte hatten wir uns nur ganz kurze Zeit aufgehalten.
10. Später schrieb er uns die Lebensform nieder und betonte am meisten, daß wir immer in der heiligen Armut verharren sollten.
Und er war nicht damit zufrieden, uns zu seinen Lebzeiten durch viele Predigten und Beispiele zur Liebe und Beobachtung der heiligsten Armut zu ermuntern, vielmehr hinterließ er uns mehrere Schreiben, damit wir nach seinem Tode in keiner Weise von ihr abweichen, gleichwie der Sohn Gottes, solange er auf Erden lebte, niemals von dieser heiligen Armut abweichen wollte.
Seinen Fußspuren nachfolgend ist auch unser hochseliger Vater Franziskus, solange er lebte, niemals von der heiligen Armut, die er für sich und seine Brüder erwählt hat, abgewichen, weder in seinem Beispiel noch in seiner Lehre.
11. Ich, Klara, Christi und der Armen Schwestern des Klosters San Damiano obschon unwürdige Magd und kleine Pflanze des heiligen Vaters, habe mit meinen Mitschwestern unsere höchste Berufung und das Gebot eines so großen Vaters überdacht, zugleich aber auch die Gebrechlichkeit der anderen Schwestern, die wir nach dem Heimgang unseres heiligen Vaters Franziskus, der unsere Säule, nächst Gott unser einziger Trost und unsere Stütze war, auch für uns fürchteten; darum haben wir uns immer und immer wieder freiwillig unserer heiligsten Herrin Armut verpflichtet, damit nach meinem Tode die Schwestern, die jetzigen und die kommenden, auf keine Weise sich von ihr abzuwenden imstande wären.
12. Und wie ich immer eifrig bemüht und besorgt gewesen bin, die heilige Armut, die wir dem Herrn und unserem heiligen Vater Franziskus zu beobachten und von den anderen beobachten zu lassen versprochen haben, so sollen auch die anderen Äbtissinnen, die mir in meinem Amte nachfolgen, gehalten sein, bis ans Ende sie selbst immer zu beobachten und von ihren Schwestern beobachten zu lassen.
Ja, zur größeren Sicherheit war ich besorgt, vom Herrn Papst Innozenz, zu dessen Zeit wir angefangen haben, und von seinen Nachfolgern, unser Gelübde der heiligsten Armut, das wir auch unserem Vater versprochen haben, durch ihre Privilegien bekräftigen zu lassen, damit wir zu keiner Zeit und auf keine Weise von ihr abweichen.
13. Darum verneige ich mich ganz, mit Leib und Seele, ich beuge meine Knie und empfehle alle meine Schwestern, die gegenwärtigen und die kommenden, der heiligen Mutter, der Römischen Kirche, dem Papste und besonders dem Herrn Kardinal, der für den Orden der Minderbrüder und uns bestimmt ist. Um der Liebe jenes Herrn willen, der arm in der Krippe lag, arm in der Welt lebte und nackt am Marterholze verblich, möge der Herr Kardinal allzeit seine kleine Herde die heilige Armut beobachten lassen, die wir Gott und unserem hochseligen Vater Franziskus versprochen haben, und er möge die Schwestern in dieser Armut immer bestärken und erhalten. Diese kleine Herde hatja der Herr und Vater in seiner heiligen Kirche durch das Wort und das Beispiel des seligen Vaters Franziskus erweckt, welcher der Armut und Demut seines geliebten Sohnes und der glorreichen Jungfrau, seiner Mutter, nachgefolgt ist.
14. Der Herr hat unseren hochseligen Vater Franziskus zum gründer, Pflanzer und Helfer im Dienste Christi und in all dem gegeben, was wir Gott und diesem unserem Vater versprochen haben, der zu seinen Lebzeiten in gleicher Weise in Wort und Tat besorgt war, uns, seine kleine Pflanze, zu hegen und zu pflegen. Ebenso empfehle ich nun meine zurückbleibenden Schwestern, die gegenwärtigen und kommenden, dem Nachfolger unseres seligen Vaters Franziskus und dem ganzen Orden. Sie mögen uns helfen, im Dienste Gottes stets zum Besseren voranzuschreiten und vor allem die heilige Armut besser zu beobachten.
15. Wenn es sich aber ereignen sollte, daß die genannten Schwestern zu irgendeiner Zeit die genannte Stätte verlassen und sich an eine andere begeben, so sollen sie nichtsdestoweniger verpflichtet sein, nach meinem Tode, wo immer sie auch sein mögen, die genannte Lebensweise der Armut, die wir Gott und unserem hochseligen Vater Franziskus versprochen haben, zu beobachten.
16. Es seien jedoch sowohl jene Schwester, die mein Amt innehat, als auch die anderen Schwestern stets besorgt und bedacht, um die genannte Stätte herum nicht mehr Land zu erwerben oder anzunehmen, als die äußerste Notwendigkeit für einen Garten zum Anbau von Gemüse erfordert.
Wenn es aber zu irgendeiner Zeit für das auskömmliche Leben in der Abgeschiedenheit des Klosters notwendig sein sollte, außerhalb des Gartenzaunes noch mehr Land zu haben, so sollen sie nicht gestatten, mehr zu erwerben, als die äußerste Notwendigkeit fordert; und dieses Land soll gar nicht bearbeitet und besät werden, sondern stets brach und unbebaut liegenbleiben.
17. Ich mahne aber inständig im Herrn Jesus Christus alle meine Schwestern, die gegenwärtigen und kommenden, sich immer zu bemühen, den Weg heiliger Einfalt, Demut und Armut nachzugehen, wie auch einen ehrbaren und heiligen Wandel zu führen; so nämlich wurden wir seit dem Anfang der Bekehrung zu Christus von unserem seligen Vater Franziskus belehrt. Darum sollen die Schwestern nicht durch ihre Verdienste, sondern einzig durch die Barmherzigkeit und Gnade des freigebigen Spenders, welcher “der Vater der Erbarmungen” (2 Kor 1,3) ist, sowohl jenen, die fern, als auch denen, die nahe sind, stets den Duft eines guten Rufes verbreiten.
18. Und liebet einander mit der Liebe Christi und zeiget die Liebe, die ihr im Herzen habt, auch nach außen durch die Werke, damit die Schwestern, durch dieses Beispiel aufgefordert, stets in der Liebe Gottes wachsen und einander immer mehr lieben.
19. Ich bitte auch jene, welche das Vorsteherinnenamt bei den Schwestern innehaben wird, sie möge sich bemühen, die anderen mehr durch Tugenden und heiligen Wandel als durch das Amt zu überragen, auf daß die Schwestern, von ihrem Beispiel entzündet, ihr nicht so sehr wegen des Amtes, als vielmehr aus Liebe gehorchen.
Sie soll auch rücksichtsvoll und fürsorglich ihren Schwestern gegenüber sein wie eine gute Mutter gegen ihre Töchter; besonders aber soll sie sich bemühen, sie nach dem Bedürfnis einerjeden mit den Gaben zu versorgen, die der Herr geben wird. Sie soll auch so gütig und umgänglich sein, daß sie ihr sorglos ihre Nöte offenbaren und zujeder Stunde sich vertrauensvoll an sie wenden können, wie es ihnen förderlich scheint, sowohl für sich persönlich als auch für ihre Mitschwestern.
20. Die Schwestern aber, die Untergebene sind, sollen eingedenk sein, daß sie um des Herrn willen dem eigenen Willen entsagt haben. Daher will ich, daß sie ihrer Mutter gehorchen, wie sie mit freiem Willen dem Herrn versprochen haben. Die Mutter soll beim Anblick der gegenseitigen Liebe, Demut und Eintracht alle Last, die sie von Amts wegen trägt, leichter tragen. Und das Lästige und Bittere möge ihr um deren heiligen Wandels willen in Süßigkeit verwandelt werden.
21. Und weil der Weg und Pfad, auf dem man geht, eng und die Pforte, durch die man zum Leben eintritt, schmal ist, so sind es nur wenige, die darauf wandeln und durch sie eintreten (vgl. Mt 7,13 f), und wenn es schon wenige sind, die eine Zeitlang darauf wandeln, so sind es die wenigsten, die auf ihm ausharren. Selig aberjene, denen es gegeben ist, auf ihm zu wandeln und auszuharren bis ans Ende (vgl. Mt 10,22).
22. Wir sollen uns also hüten, wenn wir schon den Weg des Herrn betreten haben, daß wir keineswegs durch unsere Schuld, Nachlässigkeit und Unwissenheit zu irgendeiner Zeit davon abweichen, damit wir nicht einem so großen Herrn, seiner jungfräulichen Mutter, unserem seligen Vater Franziskus, der triumphierenden und auch der streitenden Kirche Schande machen.
Es steht nämlich geschrieben: “Verflucht, die abweichen von deinen Geboten!” (Ps 118,21).
23. “Um dessentwillen beuge ich meine Knie vor dem Vater unseres Herrn Jesus Christus” (Eph 3,14), damit durch die fürbittenden Verdienste der glorreichen, heiligen Jungfrau Maria, seiner Mutter, unseres hochseligen Vaters Franziskus und aller Heiligen der Herr selbst, der einen guten Anfang verliehen hat, auch das Gedeihen gebe (vgl. 1 Kor 3,7), auch gebe er immer Beharrlichkeit bis ans Ende. Amen.
24. Dieses Schreiben hinterlasse ich euch, meine geliebtesten und teuersten Schwestern, den gegenwärtigen und zukünftigen, damit es besser beobachtet werde, als Zeichen des Segens des Herrn und unseres hochseligen Vaters Franziskus und des Segens euerer Mutter und Magd.